Mein kleiner Junge und ich gehen mal wieder zum Baby-Delfin-Schwimmkurs ins Schwimmbad an der Seestraße im Wedding. Eine halbe Stunde pro Woche tollen wir nach Anweisung der Schwimmlehrerin durch das – im wahrsten Sinne des Wortes – pisswarme Wasser. Bei den Horden an Babys und Mamis, die sich da im Halbstundentakt ablösen, schätze ich den Wassergehalt auf maximal zehn Prozent. Macht aber nichts, ist ja Chlor drin und Chlor desinfiziert. Da haben Keime keine Chance.
Nach dem Kurs geht’s ab unter die Dusche und in der Umkleide drängen sich nackte Mamis zwischen nackten Kleinkindern. Die Kleinen heulen, es ist eng und jeder will so schnell wie möglich hier raus, bevor der nächste Schwung Mütter für den nächsten Kurs kommt.
Der braune 70er-Jahre-Steinfußboden klebt, Krümel von eilig in Kindermünder geschobenen Keksen ersaufen in Chlorwasser-Lachen und verschmelzen mit dem Dreck der Straßenschuhe zu einem Brei, der den in Regenwasser schmelzenden Hundehaufen auf den Wegen hin zum Schwimmbad gleicht.
Ein Eineinhalbjähriger neben mir starrt fasziniert auf seinen kleinen Penis, dann stellt er sich breitbeinig hin, kuckt sehr konzentriert und pinkelt los. Das plätschernde Wässerchen rinnt unaufhaltsam auf meine nackten Füße zu.
Egal, denke ich, erst letzte Woche schwärmte die Heilpraktikerin aus dem Familienzentrum von der Eigenurintherapie. Denn frischer Urin wirke desinfizierend und reinigend. Voller Stolz erzählte sie, dass auch ihr 20-jähriger Sohn jeden Morgen damit gurgle.
Da hatte ich Bilder im Kopf: Er, früh morgens nach einer leidenschaftlichen Nacht mit seiner neuen Liebsten im Bett. Sie sagt: „Küss mich noch einmal!“, und er sagt: „Warte kurz, ich muss vorher nochmal ins Bad, gurgeln.“ Sie denkt an Pfefferminz, er an die Empfehlung seiner Mutter.
Aber soll ja jeder so, wie er will, das muss man entspannt sehen. Ich therapiere also meine Füße mit warmem Fremdurin. Ekel ist schließlich nur etwas Anerzogenes, denke ich, und fühle mich von der Heilpraktikerin sehr gut gebrieft.
Mein kleiner Sohn sieht einen durchweichten Kekskrümel auf dem Boden, bückt sich und steck ihn sich in den Mund. Doch wie schon die Heilpraktikerin sagte: „Denkt daran, da ruft das Immunsystem eures Kindes ‚Hallo, fremder Keim! Schön, dich bekämpfen zu dürfen‘ und freut sich. Bleibt gelassen und freut euch mit ihm!“ Ich bleibe also gelassen und freue mich gemeinsam mit dem Immunsystem meines Kindes auf diese neue Erfahrung. Als er vor zwei Wochen irgendwas Gelbes, Glibberiges vom Beckenrand gepult und gegessen hat, ist er ja auch nicht tot umgefallen. Dafür hebt es mich auch heute noch beim Anblick von Vanillepudding.
Damit meine Freude nicht noch größer wird, stelle ich meinen Sohn in den proppevollen Laufstall der Umkleide. Das ist S-Bahn-Feierabendverkehr-Feeling für die Kleinsten. Ein Kind niest lautstark, Rotz wirbelt durch die Luft, niemand kann dem Tröpfchenregen im Kinderknast entkommen.
Ich jubiliere innerlich: Hallo, fremder Keim! Wie schön, dich bekämpfen zu dürfen.
Meine Güte, bin ich froh, dass ich bei diesem Heilpraktiker-Vortrag dabei war – ohne dieses beruhigende Mantra „Hallo, fremder Keim! Wie schön …“ hätte ich schon längst meine Contenance verloren.
Immer, wenn sich die Schiebetür auf den Gang öffnet, lugen drei pudelbemützte Viertklässler mit schlenkernden Turnbeuteln in die Umkleide herein. Einer zieht die Tür auf, dann gibt es großes Gefeixe, dann zieht einer die Tür wieder zu. Auf das sonore Gezeter ihres Schulsportlehrers auf dem Gang reagieren sie nicht. Mit einem Fuß im Vorhof der Pubertätshölle bekommen sie sich angesichts so viel nackter Mamihaut gar nicht mehr ein. Die Tür öffnet sich erneut, ein dicklicher Mann reckt seinen puterroten Kopf hinein, mustert uns ausgiebig von Brust bis Po und ruft: „Tschuldigung, die Kinder …“
Freud wäre von dieser Szenerie im Wedding entzückt gewesen. Ich bleibe gelassen beim Anblick dieses Eindringlings und denke mir „Hallo, fremder Keim! Wie schön …“
So langsam kommt wieder Ordnung in die Umkleide, ausgebeulte Jogginghosen werden hochgezogen, übergroße Pullis übergestreift, Turnschuhe angezogen. Wir sehen alle ein wenig verlottert aus, na ja, Mamistyle eben, denke ich und krame in meinem Spind.
„Du siehst ja heute wieder toll aus, was du da anhast, voll der Style… dass du überhaupt die Zeit dafür findest …“
Ich drehe mich um, anscheinend habe ich da was übersehen, und mustere die Angesprochene. Aber ich kann keinen Unterschied zu mir oder den anderen erkennen: ausgebeulte Jogginghose, übergroßer Pulli, Turnschuhe. Da sehe ich die drei Streifen an Ärmeln und Beinen ihres Outfits, bei den anderen Mamas prangen Häkchen auf den Klamotten.
„Ja, gut, was?! Ich hatte einfach keinen Bock mehr auf diesen Mami-Schlabberlock“, sagt die Gestreifte. „Vor zwei Monaten hab ich mir gedacht, jetzt ist gut, ich tu jetzt wieder mehr für mich. Und da nutz ich die Stunde abends beim Stillen nur für mich. Zum Shoppen auf dem Handy.“
„Du shoppst jeden Abend? Das wird doch schnell teuer …“, sagt eine der Abgehakten.
„Das meiste schick ich wieder zurück. Aber das entspannt total.“
„Das sollte ich auch mal machen. Diese Activewear von Nike isses einfach nich mehr“, steigt eine dritte Mutti mit ein.
„Na ja, ich sag mal: Hauptsache kein Billigschrott“, sagt eine vierte und auf einmal unterhalten sich alle in der Umkleide über Markenklamotten.
In meinem Noname-Outfit fühle ich mich plötzlich underdressed. Nackt war’s irgendwie besser.
Am nächsten Tag habe ich einen stark juckenden Ausschlag. Ich google nach Dingen, die man sich in Schwimmbädern holen kann. Ich finde Whirlpool-Dermatitis, Ganzkörper-Fußpilz, Fremdurin-Unverträglichkeit, Molluscum-Warzen. Und ein paar sehr hässliche Bilder, die meine Vanillepudding-Aversion chronisch werden lassen.
Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass mein Ausschlag vom Markenfetischismus kommt. Dagegen bin ich nämlich wirklich allergisch.
Doch ich habe mir geschworen: Wenn mein Sohn dann eines Tages solche Klamottenwünsche mit nach Hause bringt, werde ich gelassen bleiben und sagen:
„Hallo, fremder Keim! Wie schön, dich bekämpfen zu dürfen.“
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