Wider die Masse!

Der große, leere Raum, den ich gleich betreten werde, ist noch dunkel. Es ist mein erstes Mal und ich bin zehn Minuten zu früh. Durch die geschlossene Glastür sehe ich ein paar Gestalten, die fast schon hospitalistisch mit den Armen schlenkern. Ich trete ein und rufe ein fröhliches „Hallo“, das von den Betonpfeilern und den kahlen Wänden zurückgeworfen wird. Die Köpfe drehen sich zu mir, man mustert mich, scheinbar habe ich den Ernst der Lage nicht erkannt, denn alle schweigen. Dann fangen sie wieder an, voll konzentriert mit den Armen zu schlenkern.
Ich suche mir eine Ecke, aus der ich den Raum gut überblicken kann, und setze mich auf das Parkett. Die Tür geht auf, es kommen noch ein paar Leute, schweigend, mit schnellen Schritten und mit gesenkten Häuptern. Schon jetzt vollbringen sie mathematische Höchstleistungen, denn zielgenau positionieren sie sich zwischen den anderen mit dem maximal möglichen Abstand zwischeneinander. Es ist mucksmäuschenstill.
Das Neonlicht flackert auf. Es ist so weit. Jetzt geht es los. Eine halbnackte Brasilianerin betritt den Raum, ruft: „Hello, you have to do what I show you! So now: Have FUN!!!“

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In diesem speziellen Fall darf man Angst bekommen, wenn Frauen die Hosen runterlassen – auch als Mädchen.

Sie schaltet die Stereoanlage ein und Sambarhythmen tanzen aus den Boxen.
Ich habe diesen Kurs gewählt, weil mir Tanzen Spaß macht, meine Mitstreiterinnen sehen aber immer noch so aus, als hätte man sie dazu gezwungen. Verbissen lassen sie die Hüften kreisen, wackeln mit zusammengekniffenen Arschbacken im 2/4-Takt und werfen nach Ansage so kokett den Kopf zurück, wie es nur echte deutsche Frauen können, gestählt von Heim und Herd und dem Workout auf der Karriereleiter.
„And make your moves out from your middle! HAVE FUN!!!“, überschreit die Brasilianerin die Musik und tanzt als Einzige nicht wie eine Eisenstange aus Krupp-Stahl. Sie tut mir leid, weil im großen Spiegel sieht sie ja, wie sich das deutsche Elend bewegt, mit Leidenschaft und Lebensfreude haben die zusammengepressten Lippen meiner Mitstreiterinnen jedenfalls nichts zu tun. Also wenn DAS die Tanz-Spaß-Gruppe ist, bin ich froh, dass ich nicht im Hard-Core-Buti-Pimp-Up-Kurs gelandet bin.

Als ich feststellte, dass ich durch das ewige Sitzen am Schreibtisch Rückenschmerzen bekam, hatte ich beschlossen, mich zu bewegen. Außerdem habe ich für ein Wannenbad immer weniger Wasser gebraucht – das ist zwar gut für die Umwelt aber schlecht fürs Ego. Und so reihte ich mich ein in die Gruppe der Selbstoptimierer und verkaufte meinen Körper an ein Fitness-Studio. 11% der deutschen Gesamtbevölkerung quält sich mittlerweile freiwillig und lässt sich von sadistischen Trainern anschreien und zur Schnecke machen.
Und Schuld an diesem Trend hat … Napoleon. Turnvater Friedrich Ludwig Jahn hatte 1810 – in Berlin – den „organisierten Sport“ erfunden; mit der Absicht, eine körperlich fitte Bürgerwehr zu schaffen, um das von Napoleon besetzte Preußen zu befreien.
Heute kämpfen wir allerdings nicht mehr gegen die Franzosen, da sind wir friedlicher geworden. Mittlerweile ist das Fettpolster unser größter Feind.

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Die Rolle / die Röllchen der Frau waren schon zu Rubens Zeiten ein gesellschaftlich brisantes Thema.

Aber das war ja schon immer so: Das „andere“ ist immer mehr sexy als das, was man gerade hat. Rubens üppige Frauen waren deshalb so schön, weil der überwiegende Teil der Bevölkerung ständig befürchten musste zu verhungern. Und im Mittelalter würzten die Feudalherren all ihre Speisen viel lieber mit Honig und Zucker als mit Salz – also auch den Gänsebraten, das Wurzelgemüse und die gebackene Forelle – einfach, um zu demonstrieren, dass man sich das leisten kann. Aber da hatte man noch eine ganz andere Einstellung zum Zucker, schließlich ging man davon aus, dass er den Körper reinige, wohltuend für die Nieren sei und sich hervorragend für die Zahnpflege eigne.

Ja, die wussten es damals einfach noch nicht besser. Aber wir! Nur wenden wir unser Wissen leider gar nicht an. Spätestens seit 1905 wissen wir, dass E=mc² ist – eines der wichtigsten Naturgesetze, das jemals entdeckt wurde. E steht für Energie, m für Masse und c für Lichtgeschwindigkeit. Diese Formel sagt unter anderem, dass Energie in Masse umgewandelt werden kann und umgekehrt. Materie ist also geronnene Energie. Wer jemals eine hochkalorische 1-Kilo-Sahnetorte ganz allein gegessen hat und sich am nächsten Morgen auf die Waage gestellt hat, dem dürfte dieses Prinzip, dass sich Energie in Masse verwandelt, vertraut sein.

Aber ganz ehrlich: Da hab ich jetzt gelogen. Ganz so stimmt das natürlich nicht, weil es sich bei dem Vorgang „Sahnetorte transformiert sich in Hüftgold“ um einen biochemischen Vorgang handelt und nicht um einen physikalischen. Es ist lediglich ein Stoff-Umwandlungsprozess von der einen Masse in eine andere. Einstein hingegen formulierte mit seiner legendären Formel, dass die Sahnetorte quasi in pure Energie zerstrahlt werden kann und nichts als Energie von ihr übrigbleibt. Noch nicht mal so ein bisschen Asche, sondern reine Strahlung in Form von Wärme oder Licht.

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So kann das aussehen, wenn Sahnetorte zerstrahlt

Mit E=mc² birgt ein Kilogramm Sahnetorte so viel Energie in sich, wie bei der Verbrennung von 3 Millionen Tonnen Braunkohle frei wird. 3 Millionen Tonnen Kohle, das entspricht einem Kohleberg von der Größe der Cheopspyramide. Und so eine Menge am Tag nach der Schlemmerei MEHR am Arsch kleben zu haben – also das wäre ja schon sehr unfair. Wir können also froh sein, dass wir Sahnetorten nur biochemisch umwandeln und nicht physikalisch.
Aber trotzdem bleibt bei dieser Formel E=mc² ja noch das c, die Lichtgeschwindigkeit. Und das bedeutet, dass je mehr man einen Körper beschleunigt, um so schwerer wird er und um so mehr Energie benötigt man, um ihn zu bewegen.
Deswegen sind Interstellarflüge mit Lichtgeschwindigkeit auch so unwahrscheinlich. Je schneller ein Raumschiff wird, desto schwerer wird es und um so mehr Energie braucht man, um es zu beschleunigen.

Und genau hier sollte der moderne, körperbewusste Fitnessmensch ansetzen. Mit ein bisschen Wissen und Physik bleibt uns vieles erspart: Je schneller wir uns bewegen, um so schwerer werden wir. Mörderische Fitness-Kurse bringen absolut nichts! Im Gegenteil, wir werden während unseres Workouts auf dem Laufband nur schwerer. Einstein hat‘s bewiesen.
Morgen werde ich mich beim Fitnessstudio wieder abmelden. Wobei …

Einstein bewies schließlich auch, dass Masse Dellen in der Raumzeit verursacht. Die Raumzeit ist das Gummituch und darauf „liegen“ die schweren Objekte wie Sonnen, Planeten und schwarze Löcher. Wenn wir in den Himmel blicken und dort die Sterne glitzern sehen, dann sehen wir zugleich die Orangenhaut des Universums, mit seinen Dellen in der Raumzeit.

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Auch die Erde verusacht unschöne Dellen in der Raumzeit. Hilf mit, die Optik des Universums zu verbessern. Je leichter Du wirst, desto leichter wird die Erde und desto makelloser wird das Universum. Ich kann Dir einen SUPER Tarif in Deinem Fittnessstudio vor Ort vermitteln 😉

Und ist mein Oberschenkel mit seiner Orangenhaut nicht auch ein kleines Abbild des Universums? Und wäre das Universum nicht auch froh, wenn es etwas dagegen tun könnte? Ich muss nur 35 € im Monat zahlen und im Gegensatz zum Weltall, das sich in ganz anderen Dimensionen zu bewegen hat und dementsprechend bestimmt schlechtere Konditionen bei seinem Fitnessstudio vor Ort bekommt, habe ich es wohl noch ganz gut getroffen.

 

50 50 (sprich: Fifty Fifty)

Umzugsstress„Fifty Fifty“ … Sind wir nicht alle ein bisschen Konrad… oder ein bisschen unscharf?

„Ich will den da! Der kuckt so niedlich! Mami Mami, der ist so süß!“
Es war immer derselbe Spruch, der gleiche Ablauf: Erst ein spitzer Schrei des Entzückens, dann patschten klebrige Kinderhände an die Scheibe und schließlich tauchte die riesige Hand des Verkäufers in das Terrarium und holte einen von ihnen heraus.
Konrad seufzte. Er hatte schon viele gehen sehen, in eine ungewisse Zukunft. Er ahnte es: Die Mädchen wollten ein Haustier als Puppenersatz und die Jungs ein Upgrate für ihren Chemiebaukasten. Aber ihm würde das nicht passieren. Er war ja nicht blöd. Er war sich sogar ziemlich sicher, dass er der einzige intelligente Hamster hier war. Und das schon seit mehreren Monaten …“

Marion Alexa Müller, Text zum Thema „Umzugsstress“ bei der Lesebühne Vision & Wahn
Produktionsjahr: 2012 © periplaneta.com / silbenstreif.de